Im Kino schlafen heißt dem Film vertrauen

Der Laderaum der Fähre nach Griechenland war fast leer. Ein Dutzend Lastwagen standen auf der Steuerbordseite, das Schiff hing deshalb die ganze Fahrt über schief. Kostenlose Schlafplätze gab es nur im Bordkino. Dort lief in Endlosschleife Cocktail, damals schon über zehn Jahre alt. Der Film lief im Original mit griechischen Untertiteln. Es gab gute Gründe, den Film nicht zu sehen, aber als ich mich auf den Kinosesseln ausgestreckt hatte, war an Schlaf nicht zu denken. Ich konnte den Blick nicht von der durch die Schräglage des Schiffs aus dem Gleichgewicht gebrachten Leinwand abwenden, die ganze Nacht über. In der ersten Vorführung versuchte ich, den Text der Dialoge zu verstehen, vorauszuahnen, was Tom Cruise als nächstes tun würde. Bei der zweiten Vorführung war der Filmton bekannt, die wiederkehrende Musik, die Schieflage des Schiffs. Ich hätte also schlafen können. Aber diesmal hielten mich die Dialoge wach, die ich nun wirklich verstand. Und da ich ja bereits wusste, wie die Geschichte ausgeht, konnte ich mich auf die Konstruktion, die Anbahnung der Beziehung, die absurde Choreografie des Cocktailmixens konzentrieren. 

Cocktails sind in einer Zeit in Deutschland modern geworden, in der die Länder, in denen Cocktails traditionell getrunken werden, plötzlich für jeden erreichbar waren. Die Exotik der Getränke hat sich ähnlich wie die Ästhetik dieser Zeit, die blauen Lichtfolien, die Blumenmuster der Hemden, die Vorliebe für Settings unter Palmen inzwischen verloren, aber zur Sozialisation hat damals das Gefühl gehört, mit einem Cocktail die billige Alternative eines Karibikurlaubs in der Hand zu haben. Der Film ein glänzender Werbespot für Tequila, Bacardi und Cachaça, ausgestrahlt zehn Jahre nach seiner Premiere auf einer Urlaubsfähre nach Griechenland als austauschbares Versprechen von Liebe am Strand mit glücklichem Ausgang und eigener Cocktailbar. Bei den aktuellen Auswandererportraits ist es eher die Eisdiele am Strand.

Immer wieder versuchte ich, die griechischen Untertitel mitzulesen, obwohl ich kein Griechisch verstehe. An Schrift im Bild kann ich nicht vorbeisehen. Ein Reflex. In der vierten Vorführung hatte ich schließlich völlig übermüdet den Eindruck, ich könnte inzwischen sogar Griechisch verstehen. Vor Kurzem ist mir das noch einmal passiert, als ich bei einer Lesung einem Gebärdensprachendolmetscher zugesehen habe. Man vergisst in diesen Momenten, wie sehr das Verstehen über den gehörten Text gesteuert wird. Im anschließenden Griechenlandurlaub konnte ich mich jedenfalls weder verständlich machen, noch verstehen, was die Leute sagten.

Es gibt insgesamt wenige Filme, die ich so oft gesehen habe wie Cocktail, vier Mal, erst dann bin ich eingeschlafen. Und doch kann ich mich kaum an ein Detail erinnern. Für diesen Text habe ich auf Youtube noch mal hineingesehen und war überrascht, dass er in großen Teilen am Strand unter Palmen spielt. Das hatte ich vergessen. In letzter Zeit kommen Filme dazu, die ich häufiger sehe, weil meine Kinder sie immer wieder sehen wollen, deren Dialoge sie auswendig können und ich bald wohl auch. Drei Nüsse fürs Aschenbrödel, Die Unglaublichen, Fluch der Karibik. Bei mehrfachem Sehen kommen an diesen Filmen die Knochen, die handwerklichen Mittel der Erzählung hinter den bekannten Bildern zum Vorschein.

Die meisten Filme, die ich gesehen habe, habe ich nur einmal gesehen. Aber es gibt einige, von denen ich glaube, ganze Sequenzen noch im Kopf zu haben, Bild für Bild, nur selten Satz für Satz. Es sind die Bilder, die meine Erinnerung an Filme bestimmen und auch die Stimmungen, die mit ihnen verbunden bleiben. Es sind nicht immer die Filme, die ich am meisten genossen habe, die solche Bilder hinterlassen.

Meine Nacht bei Maud habe ich inzwischen mehrfach gesehen. Aber das erste Mal war für mich die Initiation in ein Kino, das den damals neuen cool-urbanen Filmen Subway, Mona Lisa,Diva, Betty Blue eine ganz andere Substanz entgegensetzte. Die altmodisch strenge, fremdartige Optik, die Gelassenheit des Schnitts – man sieht im Bild oft nicht den, der spricht – empfand ich als Erweiterung des filmischen Bildraums gegenüber den bunten Bildern der achtziger Jahre. Und doch werden alle Bilder, wie konkret auch die Erinnerung ist, durch die Erinnerung selbst körperlos und verschmelzen mit anderen körperlosen Ablagerungen. Es ist erstaunlich, wie oft mich meine Erinnerung an Filme täuscht, siehe Cocktail.

Als Kind habe ich eines Nachts durch den Türspalt auf dem Fernseher meiner Eltern eine Filmszene gesehen, in der ein junger Mann zu dramatischer Musik nach Hause zurückkehrt. Er wirkt niedergeschlagen, trägt ein schmutziges weißes Unterhemd, weite Hosen, vielleicht sogar mit Hosenträgern, eine Jacke über der Schulter, zerlumpte Arbeiterkluft jedenfalls. Er schlurft mehr, als das er geht, gefilmt als Halbtotale ungefähr Augenhöhe. Der junge Mann steht vor einem Gatter, zögert. Nahaufnahme, eine schwere Entscheidung. Er tritt in den Hof, Hühner flattern in der Totalen auf, als er das Gatter hinter sich schließt und sich einem schäbigen und geflickten Flachbau nähert. Was dann geschieht, weiß ich nicht mehr. Vielleicht war der Film dort zu Ende, vielleicht haben meine Eltern mich an der Tür entdeckt. Aber es war klar: Hier entschied sich ein Schicksal, vielleicht auch meins. Die Szene, vermutlich aus einem Film des italienischen Neorealismus, habe ich nicht wiedergefunden, obwohl ich danach gesucht habe. Vielleicht ist sie auch nie so gedreht worden.

Abgedruckt in Revolver, Heft 32