Raymond Depardon: Irrfahrt

Depardon begibt sich auf ungewöhnliche Reise, ohne Ziel, ohne Plan, ohne Projekt — das ist das Projekt. Er wählt einen Foto­ap­pa­rat und eine Weitwinkeloptik aus und entscheidet sich gegen alle klassischen Regeln der Fotografie, den Horizont seiner Bilder stets in die Bildmitte zu nehmen und ausschließlich im Hochformat zu fotografieren — um sich im Hier und Jetzt wo  auch immer auf dieser Welt verorten zu können. Diese Ziel- und Regellosigkeit [besser: Antiregel] ermöglicht ihm die Irrfahrt, eine mo­derne Aben­teu­er­reise und ein Ankommen in der Gegenwart, das ihm die Eigen­ar­ten und „Raymond Depardon: Irrfahrt“ weiterlesen

Revolver 33

Was hat uns die Filmgeschichte zu sagen? Und wie können wir filmend, schreibend, mit ihr in Dialog treten? Die Möglichkeiten, das wird in den Gesprächen mit Serge Bozon, Miguel Gomes und Pedro Costa deutlich, sind mannigfaltig. Aber bei allen Unterschieden der Ansätze: Vergessen ist keine Option, für niemanden. Ohne Vergangenheit keine Zukunft. „Revolver 33“ weiterlesen

Gabel links, Messer rechts

Die Zivilgesellschaft scheint sich um die Entgleisungen der offenen Demokratie herum zu solidarisieren. So kann man sicher die absolute Mehrheit für die am Samstag niedergestochene Oberbürgermeisterkandidatin Henriette Reker verstehen. „Ein Angriff auf uns alle“, der Satz ist in einer solchen Situation billig zu haben. Die Allianz der drei Parteien hinter Reker hätte ihr aber auch ohne die Messerattacke vermutlich das Bürgermeisteramt beschert.

Bedenklich ist der politische Zusammenhang der Attacke allemal. Die Tat richtete sich gegen die vermeintlich liberale Flüchtlingspolitik der Stadt Köln, für die Reker als Sozialdezernentin des aktuellen rot-grünen regierten Stadtrats steht. Sie erfolgte aber auch zwei Tage nach Bekanntgabe der Entscheidung des Verwaltungsgerichts, dass die geplante Demonstration der Hooligans gegen Salafismus, die letztes Jahr zu Krawallen und einer Straßenschlacht mit der Polizei geführt hatte, nicht abgesagt werden darf, wie die Polizei gerne gehabt hätte.

Schon seit einiger Zeit gibt es auch in Köln eine gärende rechte Szene, die gegen den Bau der neuen Moschee mobil machte, bei Unterschriftenaktionen gegen das jüdische Museum und eben bei der HoGeSa-Demo in Erscheinung trat, flankiert von einer inzwischen im Stadtrat dank gefallener 5%-Hürde vertretenen ProKöln Abordnung.

War der Aufschwung rechter Gruppierungen in der Weimarer Republik immer leicht zu befeuern aus der Schlappe eines verlorenen Weltkriegs, der „Schmach von Versailles“, einer brutalen Wirtschaftskrise und den damit verbundenen Abstiegsängsten großer Teile der Bevölkerung, so ist das Potential sozialer Benachteiligungen und in nationale Demütigungen umzumünzender Umstrukturierungen der EU heute gewiss geringer. Aber es ist nach wie vor ein Potential, wie man auch in anderen EU-Ländern sieht. Und man sollte die immer mal genannte „Schere zwischen arm und reich“ als Winkel, in dem extreme Politik und Widerstand gegen die Demokratie entsteht, nicht unterschätzen.

Erstaunlich ist trotzdem, wie rabiat die Reaktion zum Beispiel auf Großzügigkeiten der Bundeskanzlerin sind. Zwar waren auch in den entsprechenden Jahren des Wirtschaftsbooms die Hälfte der deutschen Bevölkerung gegen die Anwerbung von vier Millionen „Gastarbeitern“ und bereits in den vergleichbaren Wellen der Immigration anlässlich des Jugoslawienkrieges waren die pogromartigen Übergriffe auf Flüchtlingsheime und Asylbewerber zahlreich. Seitdem wurden die Kapazitäten zur Aufnahme von Flüchtlingen und Asylbewerbern aber systematisch abgebaut – auch in Köln. Die aktuell genannte Zahl von 450.000 Asylanträgen 2015 ist zwar hoch, aber keineswegs singulär angesichts von 4 Millionen Migranten jährlich in der EU. Und sie steht der beunruhigenden Zahl von jetzt schon 500 Übergriffen auf Flüchtlingsheime, Asylunterkünfte und einzelnen Personen gegenüber.

Von den Zielländern der hiesigen Emigration wird gleichzeitig erwartet, dass sie jedes Jahr etwa 140.000 Deutsche aufnehmen. Das Fremde war schon in Zeiten der Schlagermusik nur dann gewünscht, wenn es sexy war und gut von fremden Ländern sang. Wenke Myhre, Roberto Blanco und Nana Mouskouri durften und mussten sogar Ausländer sein. Ein Ausreiseversprechen für den deutschen Exotismus, kein Einreiseversprechen für in Tunis geborene Südamerikaner oder Griechen.

Mindestens 200.000 Verfolgte emigrierten während des Nationalsozialismus und noch heute kann man den Aufnahmeländern für ihre „Kapazitäten“ dankbar sein. Die humanitäre Idee der Aufnahme Verfolgter, die sich als Konsequenz unter anderem daraus in unserem Grundgesetz manifestiert, ist aber offenbar in die Defensive geraten. Die Formulierung einer Krise ist immer ein politisches Instrument, das drastisches, gerne auch an demokratischen Instanzen vorbei zu vollziehendes Handeln erfordert. Die Berichterstattung setzt einerseits  auf die Erkenntnis, dass zu jedem Flüchtling das Schicksal einer besonderen Verfolgung gehört – weil ja niemand freiwillig sein Land verlässt. Der Begriff der „Flüchtlingskrise“ in seiner Doppeldeutigkeit, den von Bild bis Tagesschau alle inzwischen verwenden, als wäre Deutschland der eigentliche Kriegsschauplatz und nicht Syrien, setzt andererseits gegen die menschlichen Schicksale Zahlen, Kapazitäten, Zäune, Korridore und Auffanglager und tendenziell immer die Botschaft: Wir können nicht mehr. Das Boot ist voll. Und beides lenkt von den eigentlichen Krisen ab, wie sie Navid Kermani gestern benannte.

Bei allen menschlichen Schicksalen an der ungarischen Grenze war es auch der ARD-Tagesschau zu Beginn des Exodus über den Balkan eine ganze Woche nicht eine Meldung wert, was in Syrien aktuell geschieht, wie die Blockade der verschiedenen Interessen jede klare Perspektive für das Land verhindert. Die zahlreichen Krisenherde in Afrika und bis nach Afghanistan, wo die Interventionen und Rückzüge westlicher Militärs und Wirtschaftsinteressen unklare staatliche Gebilde hinterlassen haben, schaffen es nicht, die Aufmerksamkeitsschwelle zu überwinden, die heutzutage nachrichtentechnisch die EU-Grenze darstellt. Der Putsch in Burkina-Faso entfiel in der Tagesschau sogar ganz. Keine Krise. Als müsste sich das arme reizüberflutete Europa gegen die Schrecknisse außerhalb blind stellen, um mit ihnen klarzukommen. Es ist auch nicht zu erwarten, dass sich an unserer Wahrnehmung etwas ändert, wenn Bürgermeisterkandidatinnen „vor unserer Haustür“ niedergestochen werden.

Max Ophüls: Spiel im Dasein

Alexander Verlag, Berlin/Köln, Februar 2015, kommentierte Neuasgabe mit einem Vorwort von Marcel Ophüls (Vorwort übersetzt von Marcus Seibert)

„Mit der Leichtigkeit, Eleganz und Intelligenz, die seine Filme auszeichnen, erzählt Ophüls von seiner Jugend im Saarland vor dem Ersten Weltkrieg, seinem Weg vom Schauspieler zum Regisseur – erst am Theater, dann im Film – und seiner Arbeit in der Weimarer Republik und den Jahren des Exils.“

www.alexander-verlag.de

Pierre Gras: Good Bye, Fassbinder!

Alexander Verlag, Berlin/Köln, Dezember 2014
übersetzt und herausgegeben von Marcus Seibert

Die erste umfassende Bestandsaufnahme des deutschen Kinofilms seit 1990 – kommt aus Frankreich!

Nach der Ära des Autorenfilms von Fassbinder, Wenders und Herzog in den siebziger Jahren überrascht heute ein neues, facettenreiches deutsches Kino, dem man auch international mit Interesse begegnet. Der Filmwissenschaftler und leidenschaftliche Kenner deutscher Filme Pierre Gras stellt das deutsche Kino seit 1990 in einem klar strukturierten und gut lesbaren Gesamtbild dar, in dem er einzelne Autoren vorstellt, die unterschiedlichen künstlerischen Strömungen und Schulen beschreibt, die diversen politischen und ästhetischen Ansätze sowie die filmwirtschaftlichen Gegebenheiten der aktuellen deutschen Kinolandschaft analysiert.

Mit Texten über Tom Tykwer, Wolfgang Becker, Christian Petzold, Angela Schanelec, Thomas Arslan, Christoph Hochhäusler, Benjamin Heisenberg, Valeska Griesebach, Maren Ade, Fatih Akin, Andreas Dresen, Hans-Christian Schmid, Thomas Heise, Volker Koepp u.v.a.

www.alexander-verlag.de

Ich mach Musik

„Wie bastle ich einen Kontrabass aus einer Kiste? Wie schnitze ich mir eine Flöte? Wie bekomme ich aus einer Flasche oder aus einem Kamm Töne heraus?

All diese Fragen und noch viele mehr beantwortet euch Marcus Seibert und zeigt euch, wie ihr aus einfachen Alltagsgegenständen die unterschiedlichsten Instrumente selber bauen könnt – von der Eierschneiderharfe über das Pfeil-und-Bogen-Berimbau bis hin zum Gartenschlauchhorn gibt es viel zu entdecken.“

www.perlen-reihe.at

 

Vater, Mutter, Kind

Eine scheinbar perfekte Kleinfamilie. Doch den jungen Vater hat die Geburt des Kindes völlig aus der Bahn geworfen. Die Promotion will nicht fertig werden und Geld zu verdienen kann er sich auch nicht vorstellen. Gerade hat er sich damit arrangiert, das Kind zu versorgen, während seine Frau die Familie ernährt, da wartet die nächste böse Überraschung auf ihn. Sie will sich von ihm trennen. Er verliert dabei alles, an dem er sich festgehalten hat, auch das Kind. Warum soll man da noch weiterleben? Das Bedürfnis, sich zu rächen und einmal im Leben etwas zu Ende zu führen, bringt ihn auf eine furchtbare Idee.“ (Buchbeschreibung)

www.amazon.de

Haneke über Haneke

„Wie haben Sie das gemacht, Herr Haneke?“ Angelehnt an den großen Klassiker „Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?” von François Truffaut haben die Filmkritiker Michel Cieutat und Philippe Rouyer den Regisseur Michael Haneke über einen längeren Zeitraum ausführlich interviewt und Gespräche zu jedem einzelnen seiner Filme geführt – angefangen von seinem ersten Fernsehspiel „Und was kommt danach?” (1974) bis hin zu „Amour”, für den Haneke im Mai 2012 die Goldene Palme gewann. Film für Film erteilt der Regisseur Auskunft zu seiner Arbeitsweise und zentralen Werkintentionen seines Schaffens.

Das Buch ermöglicht dem Leser aus der Perspektive des Filmemachers selbst einen unmittelbaren Zugang zu seinem Gesamtwerk.

Haneke, Michael
Cieutat, Michel
Rouyer, Philippe

(Haneke par Haneke, Edition Stock 2012)

Aus dem Französischen von Marcus Seibert

416 Seiten, Abb. 124
Alexander Verlag, Berlin/Köln 2013
Fadenheftung, gebunden
ISBN 978-3-89581-297-2

38,00 €

http://www.alexander-verlag.com/programm/titel/303-HANEKE_ueber_HANEKE.html

Kirche und Israel

„Für die Christen im Besonderen gilt es, immer wieder neu, auch gegenüber Eindrücken, die vielleicht da und dort negativ sind, ein rechtes Bild von der Judenschaft zu erhalten und auch für dessen Verbreitung zu sorgen. Sie wird vor allem die Besonderheit der Juden anerkennen als etwas für die Judenschaft Notwendiges, bis hin zu den rituellen Gebotserfüllungen. Sie wird es verstehen und für Verständnis dafür sorgen, daß die Judenschaft auf dem von ihr nun einmal beschrittenen Wege bleiben und darin selbst sich festigen und stärken, auch in neuen Erkenntnissen üben muß, selbst wenn dies der Umwelt befremdlich ist. Gerade vor dies befremdliche Wesen hat sich die Christenheit schützend zu stellen. Sie hat selbst sich zu bemühen um Verständnis für Weg und Geschichte der Judenschaft bis in die Gegenwart, so wahr das Gegenüber von heute dem Gegenüber von einst immer noch entspricht und die Zwischenzeit der verschiedenen Wege durchaus nicht eine Zeit der getrennten, sondern ebenso oft auch sich schneidenden, kreuzenden, miteinander verlaufenden Wege ist. Zu jener Solidarität und den Folgen daraus gehört in unseren Tagen eine echte Verbundenheit mit der neuesten Form der volkhaften Existenz der Juden. Weder wird die Christenheit schwärmerisch den Judenstaat mit irgendeiner Form von Verwirklichung des Reiches Gottes oder eines friedlichen und herrlichen Endzustandes der Judenschaft verwechseln, noch wird sie auf der anderen Seite in diesem Staat eine rein profane Angelegenheit sehen, ein Volk wie andere, ein Staat wie andere. Immerhin ist er ein Staat von Juden, ist er ein Stück der Judenschaft, gehört zu ihrem Leben und ist eine ihrer Lebensformen.“

Günther Harder: Die Bedeutung der Auserwähltheit Israels für die Christen, in: Kirche und Israel, Berlin 1986, S.153, Erstveröffentlichung in Molinski (Hg.): Unwiderrufliche Verheißung, Recklinghausen 1968

Was mein Großvater da kurz nach meiner Geburt formulierte, klingt für mich heute aus verschiedenen Gründen fremd. Ich bin der Kirche schon vor langer Zeit abhanden gekommen, unerreichbar für theologische Argumentationen auch aus dem Umfeld der Bekennenden Kirche. Begriffspaare wie Christenheit versus Judenschaft klingen für mich wie aus einer vergangenen Zeit geliehen. Und sie klingen nicht schön: Judenschaft würde man heute wohl nicht mehr sagen, weil die letzte Silbe in einigen ihrer militärischen Verwendungen in Verruf gekommen ist. Auch der moralische Imperativ, der den Text antreibt, appelliert an einen nur noch in Erinnerungen vorhandenen Teil von mir, obwohl er einen gegenwärtigen treffen könnte. Was ist mit denen, die sich keinem Christentum mehr verpflichtet fühlen, sondern jenem unscharf als Humanismus bezeichneten Konglomerat, das mit diesem Begriff von allen religiösen Überzeugungen abgegrenzt wird? Sind sie aus dem moralischen Imperativ entlassen? Betrifft die Verpflichtung zur Anerkennung nur die Christenheit? Gerade in der Geschichte dieses Humanismus spielt die Verschmelzung von im Sinne einer nichtreligiösen Weltsicht „aufgehobenen“ christlichen und jüdischen Gedanken eine entscheidende Rolle. Die darin verwirklichte friedliche Koexistenz ehemals theologischer Denkformen durchzieht die Geschichte der Philosophie und der Literatur der letzten zwei Jahrhunderte. Sie hat sogar die Brutalitäten der Nazizeit überlebt, vorwiegend allerdings nicht in Deutschland.

In einer Situation, in der das Christentum auf den absteigenden Ast geraten ist und Appelle wie der obige niemanden mehr zu erreichen drohen, fragt es sich, wie die Forderung des Tages denn heute sein müsste. Die „sich schneidenden, kreuzenden, miteinander verlaufenden Wege“ gilt es, im beiderseitigen Interesse weiter zu verfolgen. Denn alle Versuche, mit Begriffsoppositionen in diesem schwierigen Feld Gegensätze zu behaupten, beweisen nur, dass hier mit viel argumentativem Aufwand und geschichtlich oft genug mit extremer Grausamkeit etwas getrennt werden soll, was immer schon zusammen gehört hat.

Marcus Seibert, 22.3.2012

Das Herz auf der Haut

hrsg. von Benedikt Geulen, Marcus Seibert und Peter Graf, mareverlag Hamburg, Januar 2011

„Die literarische Darstellung der imaginären Kunstwerke auf der Haut scheint generell einen besonderen Reiz zu haben. Fabelhafte Lebensgesamtkunstwerke, Landkarten unbekannter Welten, in nie gekannter Weise erotisierende Malereien entstehen in den Texten mehr als auf der geritzten Haut. Das Fazit scheint dabei: Die wichtigste Tätowierkunst ist immer noch die Literatur.“

Mit Texten von Clemens Meyer, Frank Schulz, Thorsten Krämer, Franziska Gerstenberg, James Cook und Herman Melville

ISBN 978-3-86648-146-6

www.mare.de