Luc Dardenne: Die Rückseite unserer Bilder I (1991-2005)

Übersetzt und mit einem Vorwort von Marcus Seibert

»Sich von allen Bildern […] befreien«, um neue und sehr einfache Bilder zu finden – so könnte man das Credo der Brüder Dardenne fassen. Das Arbeitstagebuch von Luc Dardenne zeigt, wie die Gebrüder Dardenne die Arbeitsweise ihrer früheren Dokumentarfilme zum Erfolgsrezept ihrer Spielfilme umgedeutet haben. Ausgangspunkt ist stets ein realer gesellschaftlicher Konflikt, mitunter eine Zeitungsnotiz aus der Rubrik Vermischtes.

Die Brüder entwickeln in langen Diskussionen daraus einen ›filmischen Stoff‹ und ein Drehbuch. Das steht bei den Dreharbeiten jedoch nicht im Mittelpunkt. Es geht um eine dokumentarische Wahrheit der Bilder, der Präsenz der Schauspielenden, die in den ersten Filmen ausschließlich Laien waren, und nicht um das technisch perfekte Spiel. Der industriellen Verfertigung von Spielfilmen wird mit radikaler Einfachheit der Mittel, mit der Arbeit an Originalschauplätzen und einem gewissen »Brutismus« im Umgang mit Licht, Ton und Kamera eine Absage erteilt. 

Die vorliegenden Tagebücher von Luc Dardenne sind Notate, die nicht die Drehs der beiden Brüder dokumentieren, sondern die Arbeit an ihren Filmen in anderen Filmen und Beobachtungen aus Literatur und Philosophie spiegeln und reflektieren.

Luc Dardenne. Die Rückseite unserer Bilder I (1991-2005)
Band 24, Texte zum Dokumentarfilm
Herausgeberin: dfi – Dokumentarfilminitiative im Filmbüro NW
Herausgegeben von: Marcus Seibert
176 S. | Br. | EUR 23 
ISBN 978-3-947238-45-3
Im Buchhandel erhältlich!

Lukas Hoffmann: Strassenbilder

Strassenbilder, Atelier EXB Paris, 2023 100 pages, 27 plates in duotone, with a text by Anne Bertrand in French, English, German. Collector’s edition available on publisher’s website. German translation: Marcus Seibert

Claude Sautet: Regisseur der Zwischentöne

Michel Boujut, Claude Sautet
Gespräche mit Michel Boujut. Aus dem Französischen von Marcus Seibert, 2022

François Truffaut nannte Claude Sautet den »französischsten aller Regisseure«; für Romy Schneider war er der wichtigste Filmemacher ihrer Karriere, der sie zur weltberühmten Ikone machte. Zu Lebzeiten als Regisseur von Liebesbanalitäten unterschätzt, »wirkt der Gigant jetzt wie einer der letzten großen lebensklugen Erfolgsregisseure des französischen Kinos« (Dominik Graf).

Sautet realisierte unter Verzicht auf alles Spektakuläre poetisch-melancholische Filme und arbeitete mit den Großen des französischen Kinos seiner Zeit: Lino Ventura, Jean-Paul Belmondo, Romy Schneider, Michel Piccoli, Yves Montand, Gérard Depardieu, Daniel Auteuil, Emmanuelle Béart.

Die Gespräche, die der Sautet-Kenner Michel Boujut mit dem publikumsscheuen Regisseur geführt hat, erschließen das Werk sowie die Intentionen des Filmemachers.

»Die Dinge passieren nie, wie wir es erwarten. Das ist das Thema aller meiner Filme.« Claude Sautet

»Sautet hat mich die Dinge des Lebens gelehrt, er hat mir etwas über mich selbst beigebracht.« Romy Schneider

Achtung, Achtung, hier spricht das Filmbüro!

42 Jahre unabhängiger Film

Das Filmbüro NW entstand 1980 als erste nordrhein-westfälische Filmförderung, gegründet von Filmemacher:innen, die Hellmuth Costards Slogan nach einem Disney-Titel „Die Wüste lebt“ beweisen wollten. Zum 40. Jubiläum 2020 sollte ursprünglich eine Broschüre begleitend zu einem großen Fest erscheinen.

Herausgekommen sind statt eines Festes nach drei Jahren Vorbereitung 416 pralle Seiten, Geschichte,  Drehberichte und Anekdoten des nordrhein-westfälischen Films. 124 Texte von Mitgliedern oder geförderten Autor:innen – von Claudia von Alemann bis Andres Veiel – versammeln Erinnerungen, Interviews, filmästhetische Betrachtungen, Wiederabdrucke vergriffener Texte und alte Fotos aus Archiven. Man erfährt, inwiefern Helge Schneider seine Perücke dem Filmbüro verdankt und wieso Bischkek und Havanna Satelliten des NRW-Films waren. Viele Wiederabdrucke teils nicht mehr zugänglicher Texte, ein ausgiebiges Register und die Vielzahl an Originalfotografien machen das Buch zu einer Fundgrube der Geschichte des bundesdeutschen Films nach 1980.  

Mit Texten von: Adolf Winkelmann, Werner Nekes, Helge Schneider, Christoph Schlingensief, Monika Treut, Jan Bonny u.v.m.

Hrsg. Marcus Seibert und Christian Fürst für das Filmbüro NW

Grafik und Verlag: Carmen Strzelecki

https://www.strzelecki-books.com/film/store-produkte-film/

 

Pasolini und die Kineme

In dem kleinen unscheinbaren Aufsatz „Das Drehbuch, eine Struktur, die eine andere sein will“ hat Pasolini 1965 die erstaunliche Behauptung aufgestellt, dass ein Drehbuch, vor seiner Umsetzung in einen Film betrachtet, als „autonome Struktur“, nicht nur bereits das Versprechen auf einen zu drehenden Film enthält, sondern aufgrund seiner Struktur den Film selbst. Die Zeichenstruktur des Drehbuchs enthält demnach bereits visible Elemente, „Kineme“, wie Pasolini das in Anlehnung an die strukturalistische Theorie des Phonems genannt hat. Deren Aufscheinen ist abhängig von der speziellen Technik des Drehbuchschreibens. Charakteristikum des Drehbuchs ist, dass es Durchgangssyndrom des Films selbst ist und zwar als „Übergang vom literarischen zum kinematografischen Stadium“, was sich bereits in seiner autonomen Struktur und in den Abweichungen vom Literarischen, manifestiert.

Als „Struktur die eine andere sein will“ zielt das Drehbuch, anders als Literatur, die ihren Zweck in sich selbst findet, auf den nach ihm zu drehenden Film. Man kann einwenden, dass Theaterstücke auch nur geschrieben werden, um vor Publikum aufgeführt zu werden, aber die Umsetzung des geschriebenen Textes in der Theateraufführung folgt nicht nur Mustern der oralen Tradition des lauten Lesens, sondern zielt vor allem nicht auf eine andersartige Struktur als Ergebnis der Aufführung. Jede Aufführung ist wieder anders und gemeinsam ist allen die Struktur des Stücks. Der Film tritt aber als Struktur durch die Verfilmung an die Stelle des Drehbuchs, ersetzt es und enthält eben ein Mehr, das weit über die Freiheiten von Inszenierung und Szenenbild im Theater hinausgeht. Und das gilt auch für Filme, die strikt das zugrundeliegende Drehbuch umsetzen.

In der Frühzeit des Tonfilms war das Theater der Feind, der den Film hinter die strukturellen Errungenschaften des Stummfilms zurückfallen ließ. Von dieser Ablehnung, die auch die Nouvelle Vague noch antrieb, ist ein starker Reflex geblieben. Es gibt zwar kein Gesetz, das Theaterstücke als Vorlage von Filmen verbietet. Viele Theaterstückverfilmungen bleiben trotzdem unbefriedigend, weil die Bestimmung der Besonderheit immer eine der Differenz zur Vorlage ist, der Film also zwangsläufig in Konkurrenz zu anderen Aufführungen tritt, statt ganz bei sich zu bleiben. Dazu kommt, dass Theaterstücke deutlich mehr auf Dialog setzen müssen, als das im Film erforderlich ist. Screwball-Comedies kann man zwar gut auf die Bühne bringen, in letzter Zeit wurde das sogar mit Kyszlowskis Dekalog versucht, Stummfilme widersetzten sich jedoch der Bühneninszenierung, widersprachen ihr sogar prinzipiell, nicht im Sinn der Pantomime sondern des Sprechens der gezeigten Orte und der sich darin bewegenden Menschen. Hier zeigt sich, dass der Mehrwert des Films entschieden mit den speziellen Möglichkeiten der Kamera und des Schnitts zusammenhängt, wohingegend das Verhältnis Zuschauer/Bühne sich nur bedingt flexibilisieren lässt, auch im Kino übrigens, in der sogar die Interaktion in Richtung Leinwand ausgeschlossen ist. Film kann aber durch die Kamera den Abstand zum Zuschauer beliebig variieren, kann Zeitsprünge vornehmen, Orte und Zeiten durch den Schnitt wechseln. Manches davon kann auch der Theatertext, aber die Wechsel sind, weil die Materie des Theaters reale Menschen auf realen Bühnen sind, weder Achsensprünge noch Ellipsen.

Die Generation der Filmemacher, die im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts geboren wurde, sah ohnehin eher im Roman ein dem Film verwandtes Genre. Pasolini selbst hat seine Filmkarriere wie diverse Nouvelle-Vague-Regisseure zwar als Drehbuchautor begonnen, seinen ersten Film „Accatone“ aber nach dem gleichnamigen eigenen Roman gedreht und später diverse Romane adaptiert. Visconti und Rohmer haben sich zeitlebens als gescheiterte Romanautoren gesehen, Antonioni, René Clair und viele andere haben neben ihrer Filmarbeit Kurzgeschichten geschrieben. Bei keinem Filmemacher gibt es so viele Romane im Bild wie bei Godard, der in Randbemerkungen immer wieder bedauert hat, nie Prosa geschrieben zu haben. Die Feinde waren die umgeschulten Theaterautoren der Boulevard-Theater, nicht die Romanciers. Die neorealistische Schreibweise der von den Filmemachern bewunderten Autoren wie Faulkner ist wiederum ohne die Einflüsse des Films nicht denkbar: Neutrale Erzählperspektive, Häufung der Beschreibungen von Alltags-„Petitessen“, die in der französischen Romantheorie seit Diderot als Kennzeichen realistischer Darstellung gefordert werden, das Eindringen von Umgangssprache in die Romandialoge, all das sind Indizien für in Prosa kopierte Techniken der Filmerzählung, die die narrativen Strukturen der Romane unterwandern, oder zumindest ein gleichlaufendes Interesse an einer Wirklichkeit, die als Widerstand gegen ästhetische Überformung ernst genommen wird. Der Begriff „cinéma d’auteur“ zeigt in seinem Pathos sehr genau, welcher Stellenwert dem Autor als Erfinder einer quasi romanhaften narrativen Struktur zugedacht war.

Pasolini stellt in seinem Aufsatz allerdings die Behauptung auf, dass die filmischen Elemente dem Drehbuchtext über die Bedeutungsseite der Drehbuchzeichen, die Kineme, im Unterschied zur Prosa immanent sind. Der Drehbuchtext ist Teil der Schriftkultur, andererseits aber Teil der Filmsprache. Zwar ist das Drehbuch nicht in der Lage, die reale Welt, die im Film abgebildet werden wird, zu antizipieren, aber die filmische Bedeutung dessen, was gezeigt werden wird, können die Textpassagen des Drehbuchs gleichwohl schon vollständig ausbilden, weil der Text dynamisch auf den nach ihm herzustellenden Film hinzielt und Worte strikt in diesem Sinne verwendet. Es geht Pasolini nicht um die ohnehin fragwürdige Theorie einer möglichen Übertragung innerer Bilder in Text, egal wie wichtig der entsprechende Versuch für Regisseure sein mag, die ihre eigenen Drehbücher verfilmen. In diesem Text geht es auch nicht um die gesellschaftliche Relevanz der Filmkunst, obwohl die Wirkmöglichkeit des Drehbuchtextes vermutlich eher in diese Richtung gelesen werden muss.

Wenn in der Regieanweisung bestimmte Blicke der Kamera auf die Sachwelt oder Darsteller vorgesehen werden, geschieht das in Sätzen, die nur oberflächlich gesehen Teil der sonst geschriebenen Sprache sind, für den – eingeweihten – Leser aber erschließt sich eine filmische Bedeutung, die jenseits eines literarischen Symbolismus liegt. Kamerawinkel, Einstellungsgrößen, bestimmte vorgedachte Bewegungen sowohl der Kamera als auch der Darsteller sind bereits im Drehbuch bedeutsames Vokabular einer eigenständigen Filmsprache. Und sie zählen zur späteren Struktur des Films und dem, was als seine Bedeutung gelesen wird. Der Versuch, in Dreharbeiten die adäquaten bewegten Bilder zu einem Drehbuch zu finden, ist demnach nicht Ausweis einer sklavischen Abhängigkeit von einer besonderen Form von Prosa, sondern die beste Möglichkeit, vorbedacht filmische Bedeutung überhaupt entstehen zu lassen. Und noch die Abweichung vom Drehbuch ist nach dieser Theorie Teil des Drehbuchs, wenn sich herausstellt, dass der Text des Drehbuchs das anvisierte Kinem eines dynamischen filmischen Ausdrucks zwar vorsieht, aber in den genannten Mitteln verfehlt. Man kann soweit gehen zu sagen, dass nach Pasolinis Überlegungen ohne eine Drehbuchstruktur, die auf einen nach ihr zu drehenden Film zielt, Improvisation Filmbedeutung schädigt. Erst als Widerstand gegen ein Buch kann sie zur Erfüllung des Angedachten beitragen. Alles andere ist im Sinne einer strukturalistischen Theorie der Bedeutung beliebig.

Die Theorie des Kinems scheint der Versuch gewesen zu sein, der Theorie eines „cinema di poesia“, dem Kernstück von Pasolinis Theorie eines cinematografischen Lyrismus einen quasi wissenschaftlichen Unterbau zu verschaffen. Im Unterschied zur poetischen Lesart des Kinos hat nie jemand, auch Pasolini nicht, die Theorie der Kineme weiter verfolgt. Überlegungen wie die Pasolinis sind eher später in Theorien zum Begriff der Filmsprache aufgegangen, die den Begriff der Sprache allerdings mehr in Analogiebildung verwenden. Meines Wissens nach ist aber nie jemand so weit gegangen, den Drehbuchtext selbst bereits als Teil der Filmsprache zu interpretieren. Die Erfahrung vieler Filmemacher war offenbar mit dem selbstverständlichen Autorengestus Pasolinis nicht kompatibel, der hier eigentlich das theoretisch zu begründen versucht hat, was der Begriff des Autorenfilmers mal hat meinen sollen.

Im Kino schlafen heißt dem Film vertrauen

Der Laderaum der Fähre nach Griechenland war fast leer. Ein Dutzend Lastwagen standen auf der Steuerbordseite, das Schiff hing deshalb die ganze Fahrt über schief. Kostenlose Schlafplätze gab es nur im Bordkino. Dort lief in Endlosschleife Cocktail, damals schon über zehn Jahre alt. Der Film lief im Original mit griechischen Untertiteln. Es gab gute Gründe, den Film nicht zu sehen, aber als ich mich auf den Kinosesseln ausgestreckt hatte, war an Schlaf nicht zu denken. Ich konnte den Blick nicht von der durch die Schräglage des Schiffs aus dem Gleichgewicht gebrachten Leinwand abwenden, die ganze Nacht über. In der ersten Vorführung versuchte ich, den Text der Dialoge zu verstehen, vorauszuahnen, was Tom Cruise als nächstes tun würde. Bei der zweiten Vorführung war der Filmton bekannt, die wiederkehrende Musik, die Schieflage des Schiffs. Ich hätte also schlafen können. Aber diesmal hielten mich die Dialoge wach, die ich nun wirklich verstand. Und da ich ja bereits wusste, wie die Geschichte ausgeht, konnte ich mich auf die Konstruktion, die Anbahnung der Beziehung, die absurde Choreografie des Cocktailmixens konzentrieren. 

Cocktails sind in einer Zeit in Deutschland modern geworden, in der die Länder, in denen Cocktails traditionell getrunken werden, plötzlich für jeden erreichbar waren. Die Exotik der Getränke hat sich ähnlich wie die Ästhetik dieser Zeit, die blauen Lichtfolien, die Blumenmuster der Hemden, die Vorliebe für Settings unter Palmen inzwischen verloren, aber zur Sozialisation hat damals das Gefühl gehört, mit einem Cocktail die billige Alternative eines Karibikurlaubs in der Hand zu haben. Der Film ein glänzender Werbespot für Tequila, Bacardi und Cachaça, ausgestrahlt zehn Jahre nach seiner Premiere auf einer Urlaubsfähre nach Griechenland als austauschbares Versprechen von Liebe am Strand mit glücklichem Ausgang und eigener Cocktailbar. Bei den aktuellen Auswandererportraits ist es eher die Eisdiele am Strand.

Immer wieder versuchte ich, die griechischen Untertitel mitzulesen, obwohl ich kein Griechisch verstehe. An Schrift im Bild kann ich nicht vorbeisehen. Ein Reflex. In der vierten Vorführung hatte ich schließlich völlig übermüdet den Eindruck, ich könnte inzwischen sogar Griechisch verstehen. Vor Kurzem ist mir das noch einmal passiert, als ich bei einer Lesung einem Gebärdensprachendolmetscher zugesehen habe. Man vergisst in diesen Momenten, wie sehr das Verstehen über den gehörten Text gesteuert wird. Im anschließenden Griechenlandurlaub konnte ich mich jedenfalls weder verständlich machen, noch verstehen, was die Leute sagten.

Es gibt insgesamt wenige Filme, die ich so oft gesehen habe wie Cocktail, vier Mal, erst dann bin ich eingeschlafen. Und doch kann ich mich kaum an ein Detail erinnern. Für diesen Text habe ich auf Youtube noch mal hineingesehen und war überrascht, dass er in großen Teilen am Strand unter Palmen spielt. Das hatte ich vergessen. In letzter Zeit kommen Filme dazu, die ich häufiger sehe, weil meine Kinder sie immer wieder sehen wollen, deren Dialoge sie auswendig können und ich bald wohl auch. Drei Nüsse fürs Aschenbrödel, Die Unglaublichen, Fluch der Karibik. Bei mehrfachem Sehen kommen an diesen Filmen die Knochen, die handwerklichen Mittel der Erzählung hinter den bekannten Bildern zum Vorschein.

Die meisten Filme, die ich gesehen habe, habe ich nur einmal gesehen. Aber es gibt einige, von denen ich glaube, ganze Sequenzen noch im Kopf zu haben, Bild für Bild, nur selten Satz für Satz. Es sind die Bilder, die meine Erinnerung an Filme bestimmen und auch die Stimmungen, die mit ihnen verbunden bleiben. Es sind nicht immer die Filme, die ich am meisten genossen habe, die solche Bilder hinterlassen.

Meine Nacht bei Maud habe ich inzwischen mehrfach gesehen. Aber das erste Mal war für mich die Initiation in ein Kino, das den damals neuen cool-urbanen Filmen Subway, Mona Lisa,Diva, Betty Blue eine ganz andere Substanz entgegensetzte. Die altmodisch strenge, fremdartige Optik, die Gelassenheit des Schnitts – man sieht im Bild oft nicht den, der spricht – empfand ich als Erweiterung des filmischen Bildraums gegenüber den bunten Bildern der achtziger Jahre. Und doch werden alle Bilder, wie konkret auch die Erinnerung ist, durch die Erinnerung selbst körperlos und verschmelzen mit anderen körperlosen Ablagerungen. Es ist erstaunlich, wie oft mich meine Erinnerung an Filme täuscht, siehe Cocktail.

Als Kind habe ich eines Nachts durch den Türspalt auf dem Fernseher meiner Eltern eine Filmszene gesehen, in der ein junger Mann zu dramatischer Musik nach Hause zurückkehrt. Er wirkt niedergeschlagen, trägt ein schmutziges weißes Unterhemd, weite Hosen, vielleicht sogar mit Hosenträgern, eine Jacke über der Schulter, zerlumpte Arbeiterkluft jedenfalls. Er schlurft mehr, als das er geht, gefilmt als Halbtotale ungefähr Augenhöhe. Der junge Mann steht vor einem Gatter, zögert. Nahaufnahme, eine schwere Entscheidung. Er tritt in den Hof, Hühner flattern in der Totalen auf, als er das Gatter hinter sich schließt und sich einem schäbigen und geflickten Flachbau nähert. Was dann geschieht, weiß ich nicht mehr. Vielleicht war der Film dort zu Ende, vielleicht haben meine Eltern mich an der Tür entdeckt. Aber es war klar: Hier entschied sich ein Schicksal, vielleicht auch meins. Die Szene, vermutlich aus einem Film des italienischen Neorealismus, habe ich nicht wiedergefunden, obwohl ich danach gesucht habe. Vielleicht ist sie auch nie so gedreht worden.

Abgedruckt in Revolver, Heft 32

Revolver 39

VORWORT

Auge und Ohr werden gerne als ‚audiovisuell‘ zusammengefasst, aber wir alle wissen, dass das Hören aus reiner Höflichkeit zuerst genannt wird. Die meisten Filme jedenfalls privilegieren das Auge, zumindest wenn es um den Einsatz von Produktionsmitteln geht, aber eben auch intellektuell. Entsprechend wird die Geschichte des Films oft als visuelle Entwicklung erzählt und das Aufkommen des Tons als Störung und Rückfall in ein mediengeschichtlich älteres Register. Aber nicht nur war der Ton immer schon da (mit zum Teil erstaunlichen Soundeffekten und variantenreicher Musikbegleitung), auch der Übergang zum Synchronton hat das Kino durchaus nicht zu jenem ‚abgefilmten Theater‘ gemacht, das noch heute als Definition für das ‚Unfilmische‘ herhalten muss. In Lucrecia Martels Kino spielt der Ton eine zentrale Rolle; sie spricht vom Akustischen als dem einzigen Element, das den Körper des Zuschauers (und nicht nur das Ohr) im Wortsinne berührt und umfängt. Ihre Ausführungen, die dieses Heft eröffnen, werfen ein Schlaglicht auf eine vernachlässigte akustische Filmgeschichte, und zugleich auf das „Unerhörte“ und Bahnbrechende ihres Kinos: die Anwesenheit des Unsichtbaren. Und wer weiß, vielleicht lässt sich dieses scheinbare Kino-Paradoxon auch als Klammer gebrauchen, die Texte dieser Ausgabe zu lesen.

Die Redaktion

Revolver 38

Vorwort

Revolver feiert mit dieser Ausgabe seinen 20. Geburtstag. Ein hohes Alter für eine Filmzeitschrift. Wir reiben uns selbst verwundert die Augen. Am 15.03.1998 sind drei* von uns aus München mit dem Kombi in den Norden aufgebrochen, um Lars von Trier und seine damalige Produzentin Vibeke Windeløw in Kopenhagen zu interviewen. Das war der Startschuss. Wir wollten das Lernen selbst in die Hand nehmen damals, und wir wollten von Leuten lernen, die wir für ihre Arbeit bewunderten. Die Zeitschrift war zu Anfang so etwas wie die Suche nach Wasser – die Münchner Filmhochschule schien uns wie eine Wüste, voller Leute, die von Dingen redeten, die sie nicht selbst erfahren hatten und vermutlich nie erfahren würden. Also zogen wir aus, die Macher zu befragen, deren Filme uns wirklich bewegten.

Mit Lars von Trier sprachen wir damals über Idioten und das Dogma 95, einen Text, den Revolver dann als erste Zeitschrift in Deutschland veröffentlicht hat. Guru, der er ist, hat uns von Trier damals gefragt, ob wir die „Bruderschaft” nicht nach Deutschland tragen wollten, als Missionare eines neuen Films gewissermaßen, aber daraus ist dann nichts geworden, auch weil wir in der Redaktion nie jenen Grad an Übereinstimmung hatten, der für diese Art von Agitation notwendig ist. Den Film zu „uniformieren”, wie es das Dogma forderte, wollte uns nicht einleuchten, und so hat sich schon im ersten Heft jene Vielstimmigkeit entwickelt, die Revolver noch heute ausmacht. Anfang Juni 1998 ist die schwarze Nummer 1 dann endlich erschienen.

Wir wollten – und wollen – ein Forum sein für einen lebendigen Film der Gegenwart, der sich seiner Wurzeln bewusst ist, ohne sich vom Kino der alten Meister einschüchtern zu lassen. Aber wir mussten bald feststellen, dass sich ein Forum nicht von selbst füllt, ja dass das Bedürfnis sich zu äußern in Deutschland nicht sehr entwickelt ist. „Freiwillige” Beiträge gab es zunächst eher selten, und seltener noch solche, die zu unserem Anspruch passten, eine Theorie der Praxis zu entwickeln.

Es sollte immer auch darum gehen, den deutschsprachigen Film bzw. die Filmpraxis selbst zu beeinflussen. Revolver wollte eine Plattform sein für Positionen zum Film, die dem Leser, anderen Filmemachern, uns, helfen, selbst Position zu beziehen. „Wir glauben an einen Zusammenhang zwischen dem Niveau einer Diskussion über Film und den Filmen selbst”, so haben wir es einmal formuliert, wobei wir eben nicht die „schöngeistige”, feuilletonistische Diskussion meinten, sondern die Diskussion unter Gleichen, den Abgleich von Erfahrungen, den Transfer von Wissen, der sich an den Filmhochschulen eben nicht befriedigend organisieren ließ.

An diesem großen Bündel von Ansprüchen haben wir mal schwerer, mal leichter getragen; die Hefte sind so auch zum Protokoll einer Suche geworden nach den Filmen, die wir selbst machen wollten. Und sicherlich begegnet man so mancher Erkenntnis – und manchem Irrtum – dem Revolver seither Raum gegeben hat, in unseren Filmen und in den Filmen unserer Leser wieder.

Mit den Jahren ist natürlich dann doch so etwas wie ein inhaltlicher Kern entstanden, und wir, die wir mittendrin stecken, können ihn vermutlich nicht so präzise benennen wie der „neutrale” Leser. Aber in jedem Falle gehört zu diesem Kern die Annahme, dass es unsere Chance ist, radikale Filme zu machen.

Wir streiten für einen persönlichen Film, einen Film, der aus dem Standpunkt eines Autors hervorgeht – im Unterschied zu dem Industrieprodukt, das mit einer Zahl im Kopf beginnt. Und wir glauben, dass sich dieser persönliche, radikale Film verbünden muss, um überleben zu können. Deshalb tauchen in unseren Heften immer wieder kooperative Strukturen auf, Familienmodelle und Freundschaftsbande. Über alle weiteren Fragen, ästhetisch, dramaturgisch, politisch, sind wir uns letztlich nie einig gewesen – und das wird auch (hoffentlich) so bleiben.

* Mit dabei waren Benjamin Heisenberg, Christoph Hochhäusler und Peer Klehmet (der allerdings nur am ersten Heft mitgewirkt hat). Nicht in Kopenhagen, aber Mitbegründer des Projekts waren damals auch Sebastian Kutzli (Ausgabe 1-7) und Jens Börner (Ausgabe 2-28). Heute wird Revolver im Kollektiv herausgegeben von (in alphabetischer Reihenfolge) Benjamin Heisenberg, Christoph Hochhäusler, Franz Müller, Marcus Seibert, Nicolas Wackerbarth, Saskia Walker. Weiterhin gehören der Redaktion an: Hannes Brühwiler, Istvan Gyöngyösi, Zsuzsanna Kiràly, Cécile Tollu-Polonowski. Revolver erscheint seit 2001 im Verlag der Autoren, Frankfurt.

Die Herausgeber